Sonntag, 16. September 2012

JEAN BOURDICHON: STUNDENBUCH ("OFFIZIUM DER MADONNA")

Vat. Lat. 3781 (Bibliotheca Apostolica Vaticana)

(Stundenbücher waren für den täglichen Gebrauch für fromme Laien konzipiert. Sie waren nicht zum Durchlesen geeignet (wobei dies nicht verboten war) und bildeten eher eine nützliche Orientierung durch das Jahr. Die Tage waren nach Heiligenfesten geordnet. Stundenbücher waren für das geistliche Wohl wichtig. Einige Beispiele für Stundenbücher:
-Stundenbuch des MARKGRAFEN CHRISTOPH VON BADEN
-Grandes Heures der ANNE DE BRETAGNE
-und natürlich die "Très Riches Heures des HERZOG VON BERRY"
(um nur einige zu nennen))

Abfassungszeit: 2. H. des 15. Jh oder frühes 16. Jh.
Papstwappen: PIUS VI., 1775-99
Kardinalswappen: KARD. ZELADA, Präfekt der Vat. Bibliothek, gest. 1801
hieraus ableitbar: Zeitpunkt der Bindearbeit
Umfang: 118 Bl. Pergament, 1 Bl. Papier; Bl. 1 fehlt (evtl. Tilgung von Besitzervermerk)
verschied. Lagen: Ternionen (6 Bl.), Quaternionen (8 Bl.), Binionen (4 Bl.)
Bl. 20: ausgetauscht
Foliierung: wohl spät. 18. Jh., s. Duktus
Schrift: flüssig, kleine Buchstaben, eng nebeneinander, kleine Rundungen (nicht rechtwinklig wie bei Textura); sog. Bastarda
Rubriken
Inhalt: 1.) Texte aus den Evangelien, z.B. Joh. 1,1-14, Gebet, Antiphon, Responsorium.
          2.) ein ebenfalls nach Stunden geordneter Teil
          3.) 7 Bußpsalmen fol. 91v: Rubrik ad matutinas mortuorum (Toten-Offizium)
          4.) Antiphone, bestimmte Heilige, Heiligen-Suffragien (z.B. Sebastian)
viele Miniaturen (z.B. Evangelisten)
für den Gebrauch von Rom

Der Autor:
-in den ACTA SANCTORUM erwähnt-famulus camerae (valet de chambre)-Maler des Königs-gehörte zum Hofstaat-Zeuge eines Konsekrationsprozesses (1513 für FRANZ VON PAULA; BOURDICHON war damals 56 J. alt, daher geb. 1457, Tours)-stellte Totenmasken und Portraits des genannten F. VON PAULA her; eine Totenmaske 12 Tage nach dessen Tod bei der Exhumierung (der Tote angebl. ohne Verwesungsspuren; (wichtig bei heil. Leichen! AdV.)-1520: er erhält Zahlung für Dekoration der Zelte beim Treffen von FRANZ I. mit HEINRICH VIII.-"enlumineur et painctre du Roy"-30 Quellen über seine Tätigkeit (2mal geht es allerdings nur um sein Maultier)-Arbeiten dekorativer Art (Fahnen, Bilder von Gewappneten u. Rittern des Michaelsorden)-sozusagen "Faktotum" für den Hof-Stundenbücher für ANNE DE BRETAGNE und FRANZ I. (Geschenk)-gest. 1520; 64 J. alt.
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Einführ.: E. König

Textproben:
-Fol 21 r: Unde quicquid ab eo petitis sine mora obtinetis (daher werdet ihr unverzüglich erhalten, was ihr von ihm erstrebt (erbeten) habt).
-Et post huius vite cursum ad gaudia me ducat electorum suorum benignissimus paracletus a quo bona cuncta praecedunt (und nach dem Lauf dieses Lebens führe mich der allergütigste Parakletus, von dem alle Güter "hervorgehen" (?), zu den Freuden seiner Auserwählten).
Das ist doch schön! Parakletus war (by the way) der Fürsprecher vor Gott. Praktisch, so einen Bekannten zu haben!
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E.